- Visionary Club
- Visionary Club Staffel 4
- IAA MOBILITY Visionary Club „Vom Fahrer zum Passagier“
Staffel 4
„Vom Fahrer zum Passagier“
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„Vom Fahrer zum Passagier“
Fahrerlebnis oder Eintauchen ins In-Car-Entertainment – was wird in Zukunft wichtiger, wenn wir mit dem Auto unterwegs sind? Wie sieht die Interaktion zwischen Mensch und Auto zukünftig aus? Und was zeichnet ein Human Machine Interface (HMI) als Technologie der Automobilindustrie aus? Das diskutiert der IAA MOBILITY Visionary Club. Denn bei immer aufwändigeren Navigationssystemen und mehr Unterhaltungsangeboten im Innenraum stellt sich die Frage, ob wir uns in Zukunft von „Autofahrern“ zu reinen Reisenden entwickeln – vor allem dann, wenn vollautonomes Fahren Alltag wird.
Nathloses Verschmelzen von Realität, Fahrerlebnis und Umgebung des Fahrzeugs – das erwartet uns in der Zukunft durch die Weiterentwicklung der automotiven Human Machine Interface (HMI). Diese steuert im Pkw die Bedienung von Entertainment, Klimaanlage, Navigation, Head-up-Displays oder Spracherkennungstechnologien sowie sicherheitsrelavanten Applikationen. HMI sind meist in der Mittelkonsole oder als zentrales Display im Armaturenbrett untergebracht.
Ulrich Lüders, Director Strategy and Portfolio, UX Business Area bei Continental, beschreibt das nahtlose Zusammenspiel bei der Interaktion von Mensch und Fahrzeug: Einerseits ist wesentlich, dass vom Einsteigen bis zum Fahren eine durchgängige Erfahrung möglich ist, die nicht etwa durch das Koppeln des Handys unterbrochen wird. „Die Interaktion mit dem Auto wird multi-modal sein – ein Mix aus einfach bedienbaren Touchfunktionen und Knöpfen, aber auch neuen Erfahrungen wie Augmented Realitäy und XR.“ XR, kurz für Extended Reality, verknüpft die Realität mit einer künstlichen Umgebung.
Autos und Metaverse – eine einzigartige Verbindung
Augmented Reality (AR) verbindet digitale Inhalte mit der realen Welt und lässt Nutzer teilweise in eine virtuelle Welt eintauchen. XR und AR machen die Interaktion mit dem Auto intuitiver und immersiver, zeigt sich Lüders überzeugt. Immersiv – der Begriff aus dem Gaming-Bereich setzt sich auch in der Automotive-Branche immer mehr durch. Im Computerspiel bedeutet es, dass User komplett in die fiktive Scheinwelt des Spiels eintauchen. Auch im Fahrzeug können virtuelle und reale Welt miteinander verknüpft werden – zum Beispiel, indem das Navigationssystem Restaurants oder Supermärkte anzeigt, im Head-up-Display Pfeile die Fahrtrichtung anzeigen, als seien sie auf die Straße gezeichnet, oder Spiele des Entertainmentsystems die Bewegungen des eigenen Fahrzeugs einbinden.
Nils Wollny hat ein Virtual-Reality-(VR)-Spiel entwickelt, das genau letzteres kann: Die Bewegungsdaten des Autos werden in das Spiel eingerechnet, indem die Fahrzeugsensoren mit einer handelsüblichen VR-Brille gekoppelt werden. Geschwindigkeit des Autos, Bremsen und Kurven werden in Echtzeit zur Brille übertragen. Ein Dinosaurier im Spiel geht zum Beispiel in den Sturzflug, wenn das Auto bei der Abfahrt von einem Hügel beschleunigt. CEO und Co-Founder des Münchener Start-ups Holoride Wollny ist überzeugt: „Das nächste Jahrzehnt wird davon dominiert, dass das Metaverse in die Autos kommt – und die Autos ins Metaverse.“
Neue Inhalte mit einem Fingertipp
Fabian Beste, Co-Founder und CEO von 4.screen ist davon überzeugt, dass die Zukunft davon bestimmt wird, dass Autoinsassen und Ökosystem um das Fahrzeug herum miteinander interagieren. Die von 4.screen entwickelte Plattform baut auf das Navigationssystem auf. Zusätzliche Informationen wie „Inhalte von Drittanbietern und Geschäfte werden dem Fahrer auf einen Fingertipp hin angezeigt“, erklärt er. Und zwar passend zum Profil des Fahrers. „Die Interaktionsmöglichkeiten werden sich stark weiterentwickeln“, meint Beste. Die Verknüpfung von infrastrukturellen Komponenten und physischer Umgebung wie lokalen Geschäften sei einer der Schlüsselfaktoren, die eine Erfahrung erst wirklich nahtlos machen.
Die wichtigste Grundlage für all diese Entwicklungen: eine stabile Datenverbindung. Denn, wie Wollny feststellt, „Echtzeitdaten sind essentiell, um eine sehr lebendige und immersive Erfahrung zu ermöglichen“. Für die Interaktion Mensch-Auto handelt es sich hierbei nicht nur um Daten, die mit der Außenwelt verknüpft sind. „Die Fahrzeugdaten sind einzigartig“, resümiert Beste. Durch Sensoren, die nicht vom Smartphone erfasst werden können, wird der Zustand des Autos in allen Bereichen von der aktuellen Geschwindigkeit bis zum nötigen Service-Intervall offengelegt. „Die Situation, in der der Fahrer sich aktuell befindet, ist der Schlüssel für eine bessere User-Interaktion im Auto“, so Beste.
Dies sind die größten aktuellen Herausforderungen für die Umsetzung
Betreffs HMI befindet sich die Autoindustrie mitten im Wandel. „Die Technologien kommen jetzt alle zusammen“, erklärt Lüders. „Die meisten Fahrzeuge mit Devices und Bildschirmen werden in den nächsten Jahren gelauncht.“ Auf der anderen Seite habe die Konsumgüterindustrie großen Einfluss. Sie sei da schon viel weiter, befindet Wollny. Im Automotive-Bereich basierten die Entwicklungen noch sehr auf dem Bildschirm. „Die Autoindustrie muss verstehen, dass ihr alles zur Verfügung steht, um Autos in Metaverse-Geräte zu verwandeln.“ Die Hersteller haben relativ lange Produktlebenszyklen, auch wegen der nötigen Tests zu Safety und Security. „Aber sie öffnen sich mehr für Applikationen von Drittanbietern und diese Offenheit wird die Entwicklung beschleunigen.“
Wichtig sei vor allem, die Interaktion einfach zu gestalten, sagt Beste. Denn während der Fahrer das Auto steuern muss, kann er nicht viel mit dem Infotainment interagieren. „Es nahtlos in ein bestehendes Produkt zu integrieren, ist eine der Herausforderungen für uns.“ Ein Schlüsselfaktor sei, das Auto in einen „erweiterten Lebensraum“ zu verwandeln. Gemütlich, komfortabel, einfach und sicher. Zuhause-Gefühl während der Fahrt.
HMI in den nächsten fünf Jahren: Fokus auf die Mitfahrer, mehr Services
Es wird eine Unterscheidung zwischen Fahrer und Passagier geben, konstatiert Lüders. Mehr Entertainment für die Passagiere, mehr Konzentration für die Fahrer – zumindest, solange das autonome Fahren noch nicht verwirklicht ist. Wollny sieht das ähnlich: „Im letzten Jahrzehnt hat sich die Autoindustrie auf den Fahrer konzentriert und die Passagiere vernachlässigt.“ Deshalb glaubt er, dass vom Design bis zu Use Cases der Fokus künftig auf den Mitfahrern liegen wird. Zusätzlich wird die Integration der Umgebung relevanter werden, ist sich Beste sicher. „Auf Basis der guten Interaktion werden viele Services möglich werden – etwa dass Restaurants die Batterieladung sponsern, während man dort isst.“
Aus dem Autofahrer von damals, dessen Fahrzeug primär der Beförderung diente, ist ein User geworden, der Bildschirme und Informationsangebote vor sich hat. Ulrich Lüders gibt zu: „Fahrablenkung ist ein großes Thema.“ Deshalb müsse die Bedienung des Fahrzeugs intuitiv sein, immersive Angebote dürfen die Person hinter dem Steuer nicht ablenken. Nils Wollny verweist auf die unterschiedlichen Rollen, die Fahrer und Insassen einnehmen. Letztere haben während der Reise völlig andere Bedürfnisse.
Eine Lösung könnte also sein, die Angebote für Beifahrer über Geräte wie eine VR-Brille auszuspielen, anstatt über Bildschirme, die den Fahrer ablenken. Das Entertainment ist „aus Sicherheitsgründen nur für den gemütlichen Bereich mit der Rückbank, wo man in Entertainment-Inhalte eintauchen kann“, gibt Wollny zu. Trotzdem ist hier das Business-Potenzial riesig: „Weltweit gibt es jeden Tag wenigstens 1,4 Milliarden Fahrten mit einem Passagier an Board.“ Und sobald Autos vollständig autonom fahren, werde sich die Entwicklung beschleunigen, „weil wir alle zu Passagieren werden“.
HMI kreiert neue Business-Modelle für Geschäfte oder Restaurants
In-Car-Entertainment via HMI heißt aber nicht nur, dass Passagiere Filme, Spiele oder Musik konsumieren. Fabian Beste beschreibt, dass relevante Informationen wie die Suche nach Ladestationen oder Geschäften zu einem neuen Geschäftsmodell werden können. Kundschaft wird über die Einbindung von Informationen zum Beispiel in Spiele oder Navigation angezogen. Wie wichtig ist diese digitale Erfahrung für den Konsumenten von morgen? „Essentiell“ sagt Nils Wollny im IAA MOBILITY Visionary Club. „Der Konsument vergleicht immer mit der Konsumgüterindustrie, aus der die Trends kommen“, pflichtet Lüders bei. „Konsumenten erwarten die gleiche nahtlose Erfahrung im Auto.“ Flatscreens wie auf dem Smartphone seien ein Beispiel dafür. Die wollten Konsumenten auch im Fahrzeug sehen.
Fabian Beste führt das weiter aus: Erst müssen die Grundlagen erfüllt sein, dann könne man „on top“ bessere Erfahrungen für den Nutzer kreieren – unter Einbeziehung von einzigartigen Autodaten, die von Sensoren geliefert werden. Wie Geschwindigkeit, Abstand zum vorausfahrenden Auto oder auch Interaktionen von Fahrer und Auto. Wollny wünscht sich, dass sich die Art, wie wir Mobilität wahrnehmen, verändert: Das Auto nicht als reines Transportmittel, das der Konsumgüterindustrie hinterherhinkt. Sondern das Auto als Ort, in dem man etwas erlebt. Das Auto nicht als erweitertes Wohnzimmer, sondern als einzigartiger Ort, der sich durch die Welt bewegt.
So betrachtet könne Mobilität Entscheidungen beeinflussen, spinnt Beste den Gedanken weiter: Wenn man bei einer Fahrt mit geringen Emissionen einen schönen Film ansehen könne, besuche man einen weiter entfernt wohnenden Freund vielleicht eher als bisher.
Automobilhersteller oder Start-up – wer kann es besser?
Im Bereich HMI und Entertainmentsysteme geben viele Start-ups und Drittanbieter neue Impulse. Sollte das nicht besser eine Domäne der Automobilhersteller bleiben? „Druck ist gut“, sagt Lüders und betont, dass der zunehmende Wettbewerb der aktuellen Entwicklung positiv sei. Er sieht die Zukunft der digitalen Erfahrung im Innenraum nicht allein in den Händen der kalifornischen Tech-Riesen. Fabian Beste unterscheidet zwischen Entertainment und Funktionen, die das Autofahren selbst betreffen. Musik-Apps zum Beispiel müssten nahtlos von außen integriert werden. Es gebe aber auch mobilitätsfokussierte Daten, die aus dem Auto bereitgestellt werden müssen – wie zum Beispiel die Akkustandanzeige.
Wollny sieht ebenfalls zwei Ebenen: Die eine betrifft das allgemeine Betriebssystem, um das es einen „massiven Kampf in den nächsten Jahren“ geben werde. Die zweite betrifft die Applikationen: Wie kann für die Reisenden ein echter Mehrwert geschaffen werden? Und wie können die Hersteller Teil der Wertschöpfungskette sein? Auch hier müsse sich das bisherige Denken verändern: Was passiert, wenn man das Auto in die dominanten Ökosysteme der Konsumenten verlängert? Und wenn man Applikationen entwickelt, die nur die Automobilindustrie beisteuern kann?
Klar wird bei allen Diskussionen um Entertainment- und HMI-Systeme der Zukunft vor allem eines: Das Auto ist ein einzigartiger, mit nichts vergleichbarer Kosmos – und seine Weiterentwicklung und zukünftige Integration in unseren Lebensalltag ist eine der derzeit spannendsten Projekte der Autoindustrie.