Vom Fahrer zum Passagier: Unterwegs zum Autonomen Fahren
Autonomes Fahren verspricht eine sicherere, effizientere und umweltschonendere Mobilität. Doch wann wird der Fahrer tatsächlich zum Passagier und was beschleunigt, was bremst diesen Übergang? Der IAA MOBILITY Visionary Club diskutiert über Herausforderungen und Potenziale der Technologie – und über die Vertrauensfrage. Gesponsort von Bayanat.
Welches Potenzial hat das autonome Fahren? Jason Eichenholz, Co-Gründer und Chief Technology Officer des Lidar-Herstellers Luminar, hat dafür eine prägnante Formel: “The Hundreds”. Und übersetzt das sofort im IAA MOBILITY Visionary Club: „Über die nächsten hundert Jahre werden wir damit hundert Millionen Leben retten und den Menschen hundert Billionen Stunden zurückgeben. ``Dieses Leben und diese Zeit werden einen großen Unterschied in der Welt machen.“
Tatsächlich sind die Erwartungen an das autonome Fahren groß: weniger Unfälle, mehr Zeit im Alltag sowie Zugang zur Mobilität auch für Menschen mit Einschränkungen. Dazu ein Straßenverkehr, der flüssiger, umweltschonender und günstiger ist. Vorboten der Technologie erleben wir heute schon: Assistenzsysteme für teilautomatisiertes Fahren, die etwa auf der Autobahn eigenständig die Spur halten. Sie stehen für das so genannte Level 2 auf den fünf Stufen zum selbstfahrenden Auto. Auch Level 3, das hochautomatisierte Fahren, kommt nun nach und nach zum Kunden: Hier darf das Fahrzeug bestimmte Fahraufgaben selbstständig übernehmen und der Fahrer sich anderen Aufgaben zuwenden – aber nur für begrenzte Zeit und in engen Grenzen. Ein Pionier hier ist der Autobahn-Staupilot, den Mercedes-Benz unter anderem für die S-Klasse anbietet.
Industrie am Kreuzweg
Sind wir also bald angekommen in der Welt des autonomen Fahrens, wenn wir nun schon Level 3 von fünf erreicht haben? Ganz so einfach ist es nicht, sagt Werner Engl, Senior Vice President und Head of Global Sales AD Systems bei der ZF Group. Der nächste Schritt Richtung Level 4, das vollautomatisierte Fahren, sei grundlegend – und groß, denn dann könne man auf bestimmten Routen ohne eine bislang sehr wichtige Sicherheitseinrichtung an Bord unterwegs sein: den Fahrer. „Vom Fahrzeug verlangt das eine Menge an Validierung und Zuverlässigkeit, von den Sensoren über die Softwarearchitektur bis hin zu den Komponenten.“ Einige Jahre werde es daher noch dauern, bis Level 4 auf den Straßen Alltag wird.
Zumal das autonome Fahren nicht die einzige Transformation ist, vor der die Mobilität steht, wie Georges Massing betont. Der Vice President MBOS Automated Driving, Powernet & Integration E/E bei Mercedes-Benz weiß: Elektrifizierung ist das Gebot der Stunde. So sei für Mercedes-Benz das autonome Fahren ein Teil eines Ganzen, der sich in die Electric-First-Strategie einfügen müsse. „Die neue Währung dabei ist Reichweite.“ Und die Technik, die ein selbstfahrendes Auto an Bord benötige, verbrauche Energie – was wiederum Reichweite verringere. „Es wird eine Herausforderung, das zusammenzubringen.” Diese zu lösen, verlange nach echter Innovation, sagt auch Eichenholz: Elektrifizierung und Autonomität zeitgleich zu stemmen, sei eine immense Transformation. „Die Industrie steht an einem Kreuzweg.“
Wichtiger Industriestandard aus Deutschland
Offen ist noch, welcher Markt sich am schnellsten auf den Weg machen wird. Das technikbegeisterte China wird einer der Schrittmacher sein, glaubt Massing. Auch die USA und Europa sind im Rennen: „In Bezug auf die technische Entwicklung ist das Silicon Valley am weitesten fortgeschritten, in Bezug auf die Markteinführung von Technologien sind es aber Deutschland und Europa. Hersteller und Anbieter haben hier 20 bis 30 Jahre Erfahrung darin, neue Technologien zu entwickeln und sie für die Massenproduktion nutzbar zu machen“, sagt Jan Becker, Präsident, CEO und Co-Founder des Software-Spezialisten APEX AI.
Auch der Bedarf beim Ausbau des öffentlichen Verkehrs treibe hierzulande die Entwicklung, ergänzt Engl. Denn autonomes Fahren könne hier eine wichtige Rolle spielen. „Zudem hat Deutschland die erste Level-4-Gesetzgebung der Welt in Kraft gesetzt, so dass wir von einem regulatorischen Standpunkt aus gesehen recht weit voraus sind.“ Die Industrie brauche diese Standards. „Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass Europa in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle bei der Einführung mindestens von Level 4 spielen wird. "
Vertrauen aufbauen
Sicher ist: Das Interesse von Politik, Industrie und auch Öffentlichkeit am autonomen Fahren ist groß. Doch gerade die potenziellen Kunden haben auch Bedenken, wie Studien immer wieder nahelegen, sei es aus der Freude am Selbstfahren oder wegen mangelnden Vertrauens in eine Technik, die an Stelle des Menschen Entscheidungen trifft. Eine aktuelle Umfrage der Markt-und Meinungsforscher YouGov mit dem Center of Automotive Management (CAM) etwa hat ergeben, dass die deutsche Bevölkerung autonomen Fahrzeugen derzeit recht skeptisch gegenübersteht. Demnach kann sich knapp die Hälfte der Befragten aktuell nicht vorstellen, vollautonome Fahrzeuge zu nutzen. Jüngere zeigen sich in der Befragung allerdings deutlich offener als ältere Befragte.
Für die Industrie heißt das: Vertrauen schaffen und Ängste nehmen. Ein Schlüssel dafür sei die stetige Verbesserung bereits existierender Assistenzsysteme, die als Vorboten des autonomen Fahrens wahrgenommen werden, so Eichenholz. „Die gesamte Industrie muss an diesen Systemen genauso hart arbeiten wie am autonomen Fahren. Sie können dazu beitragen, Leben zu retten und die Fahrerfahrung zu verbessern, wenn sie korrekt arbeiten.“ Ebenso wichtig: Offenheit statt einer Entwicklung im Elfenbeinturm. „Wir müssen transparent und realistisch sein, was die Technologie betrifft, die wir entwickeln“, sagt Becker. „Nur so lässt sich Vertrauen aufbauen.“