Urban Mobility
„Wir müssen den Aushandlungsprozess neu gestalten“
Ridepooling, Sharing von Rad, Auto und E-Scooter – vor allem Städter:innen können die neuen Mobilitätsformen heute schon nutzen. Die Mobilitätsforscher Claus Doll und Konstantin Krauß am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe haben mehr als 3.000 Menschen zu den mobilen Angeboten befragt. Herausgekommen ist: Bike-Sharing und Co. können das Leben in der Stadt viel lebenswerter und leichter machen.
Wie beliebt ist Sharing?
Konstantin Krauß: Wenn man einen Blick auf die "Mobilität in Deutschland" wirft, dann ist die Quote an Leuten, die Carsharing nutzt, in einem sehr niedrigen einstelligen Prozentbereich – und entwickelt sich tendenziell auch eher langsam. Allerdings könnte sich die Angebotsdynamik der letzten Jahre auch zügig auf eine steigende Nachfrage auswirken. Die Fahrzeugzahl im Carsharing ist deutlich gestiegen, auch und gerade die mikromobilen Lösungen boomen in Großstädten.
Wann werden Sharing-Angebote vor allem genutzt?
Claus Doll: Wenn sie nah an den Bedürfnissen und am Lebensgefühl der Menschen sind. E-Scooter sind vor allem bei jüngeren Menschen beliebt, die kein Problem haben, sich damit auch in den Straßenverkehr zu wagen.
Konstantin Krauß: Nicht jedes neue Mobilitätsdienstleistungsangebot ist für alle Zwecke sinnvoll. Häufig probieren die Leute Sharing für Freizeitwege aus, weil sie da in aller Regel keinen zeitkritischen Termin haben – falls sie zu spät kommen, weil etwas nicht so funktioniert hat, wie sie sich das vielleicht dachten. Bei Carsharing ist in autolosen Haushalten der Wochengroßeinkauf ein Klassiker. Bike- und E-Scooter werden ebenso vor allem in der Freizeit genutzt. Bei den beiden Angeboten können sich die Menschen aber vorstellen, damit auch zur nächsten Station des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) oder zum Bahnhof zu fahren. Ridepooling wird in Nicht-Covid-Zeiten am Freitag- oder Samstagabend genutzt, wenn die Menschen aus der Stadt nach Hause möchten und die Angebotslücken des ÖPNV durch solche Bedarfsverkehre ausgleichen können.
Heißt das, Sharing ist vor allem Ausdruck einer neuen Lebenseinstellung?
Claus Doll: Es gab einige Novellen des Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrsordnung zulasten des Automobils, was vor zehn Jahren so nicht denkbar gewesen wäre. Damit wird auf eine Änderung des Lebensgefühls und der Anforderungen der Menschen reagiert – gerade jüngerer Menschen im urbanen Raum.
Carsharing nimmt man sich, wenn man mal ein Auto braucht und ansonsten eigentlich keines zur Verfügung hat. Man muss sich um wenig kümmern.
Also geht der Trend zu weniger Besitz?
Claus Doll: Das Stichwort ist Mobility-as-a-service: Irgendwer kümmert sich, ich muss nur buchen und bezahlen. Den E-Scooter nehmen, von A nach B fahren und abstellen. Das ist natürlich schon schick, wenn man sich um Versicherung, Ölstand oder Reifendruck nicht mehr kümmern muss. Das trifft das Lebensgefühl vieler Menschen schon sehr stark. Und es ist bis zu einem bestimmten Nutzungsumfang kostengünstig.
Konstantin Krauß: Vor allem, wenn man Kosten nicht nur monetär begreift, sondern auch das Reduzieren von Zeitaufwand einbezieht. Ich muss nicht unbedingt einen Parkplatz suchen, weil es dezidierte Stellplätze gibt. Wenn etwas mit der Kupplung nicht stimmt, rufe ich den Anbieter, mache das Auto zu und gehe. Bis zum nächsten Mal ist das behoben. Mobilität folgt hier dem Riesentrend hin zu Dienstleistungen.
Claus Doll: Ja, es gibt eine Verlagerung von Interessen – weg vom Besitz eines Autos, hin zu IT-Geräten. Und es gibt ein größeres Interesse an einer lebenswerten Stadtumgebung. Viele Städte beschäftigen sich auch mit der Frage, wie mehr Stadtgrün in urbanen Vierteln nutzbar wird.
Wie wird das unser Leben in den Städten verändern?
Claus Doll: Wir haben gerade in Städten das zunehmende Bedürfnis, den Raum wieder nutzbar und lebenswert zu machen. Wir haben ein knappes Flächenangebot und müssen sehen, wer und was welchen Anteil bekommt. Das hat dann mit dem Verkehr gar nicht mehr so viel zu tun, sondern es geht darum, die Funktion der Stadt anders zu gestalten.
Konstantin Krauß: Wir können diese Flächenkonkurrenz durch geteilte Mobilität zu Teilen auflösen und Flächen neu verteilen. Private Autos kommen größten Teils nicht auf ihre volle Auslastung. Wenn wir also Flächen schaffen wollen, die grün sind, die mehr dem Fahrrad und der aktiven Mobilität zur Verfügung gestellt werden, schaffen wir das, indem wir insgesamt weniger Fahrzeuge haben. Der positive Effekt entsteht durch eine höhere Auslastung einer insgesamt kleineren Fahrzeugflotte und weil wir auf mikromobile Lösungen wie E-Scooter oder Fahrräder setzen können, die kleiner und leichter sind und weniger Parkraum brauchen.
Also soll Shared Mobility das Auto in den Städten ersetzen?
Claus Doll: Es geht nicht primär darum, das Auto zu verdrängen, sondern wir müssen diesen Aushandlungsprozess neu gestalten. Wir werden auch in ganz großen Städten nicht völlig ohne Pkw auskommen. Es gibt Anwendungsfälle, da ist alles andere ziemlich komplex. Etwa ein Viertel des aktuellen Bestandes an Pkw werden wir auch in Zukunft haben. Beim Bewegen großer Menschenmengen auf einmal sind Sharing-Systeme überfordert – gerade im Berufs- oder Schülerverkehr. Da werden wir den traditionellen liniengebundenen ÖPNV als Peoplemoover brauchen.
Welche Vorteile haben Städter:innen dann aber durch geteilte Mobilität?
Konstantin Krauß: Bike- und E-Scooter- Sharing brauchen weniger Platz – und sie brauchen weniger Energie. Das heißt wir haben auch weniger Schadstoffbelastung in der Luft, weniger CO2 und Feinstaub. Simulationen zeigen, dass Energieverbräuche zurückgehen können, wenn man im Verkehr auf kleinere Fahrzeuge setzt oder bündelt, indem man durch Ridepooling den Besetzungsgrad erhöht.
Claus Doll: Ein geringerer ökologischer Fußabdruck ist möglich, indem man den motorisierten Individualverkehr reduziert. Indem man ein eigenes Auto nur nutzt, wenn es wirklich gebraucht wird und sonst Rad oder ÖPNV nutzt. Das bringt einen weiteren Vorteil: Je mehr man sich aktiv bewegt und je weniger man nur im Auto sitzt, desto geringer ist das Risiko für Herzinfarkte, Übergewicht und dergleichen. Aktive Mobilität, Mikromobilität wie Fahrradfahren oder E-Scooter fördert auch die Gesundheit.
Shared Mobility ist also ein Beitrag gegen den Klimawandel?
Claus Doll: Nachhaltigkeit ist kein Selbstläufer bei den Sharingsystemen, es kommt sehr stark darauf an, wie reguliere ich sie und wie binde ich sie in den ÖPNV ein. Sind sie nicht Teil einer Mobilitätskette, entsteht plötzlich mehr Pkw-lastiger Verkehr. Wenn ich aber ein Ridepooling mit einer ausreichend guten Nutzung habe, mit mehreren Menschen pro Fahrzeug, dann spare ich Verkehr ohne Mobilität einzuschränken. Der einzige gangbare Weg, um Klimaemissionen zu senken, ist: So viel wie möglich geteilte Dienste nutzen, die möglichst elektrisch sind. Dann sinkt über die Energiewende auch die CO2–Intensität des Verkehrs.
Konstantin Krauß: Dazu kommt, dass geteilte Mobilität Kosten in der öffentlichen Mobilitätsvorsorge sparen kann. Wenn in Randzeiten oder Randgebieten der ÖPNV durch Bedarfsverkehre on-demand ergänzt wird, braucht es nicht mehr zwei liniengebundene S-Bahnen pro Stunde. Ein Sammelverkehr löst das günstiger.
Geteilte Mobilität spart der Kommune oder Stadt also Emissionen und Kosten…
Konstantin Krauß: Nicht nur der Stadt, auch dem Nutzer. Sharing bietet den Vorteil, dass man das Fahrzeug nicht kaufen muss, nicht 50.000 Euro für einen Pkw oder 3000 Euro für ein Pedelec ausgeben muss. Man kann relativ kostengünstig auf diese Mobilität zugreifen. So bekommen neue Bevölkerungsschichten Zugang zu dieser Form von Mobilität. In Städten wie Stuttgart zum Beispiel, die typografisch etwas ungünstig fürs Fahrradfahren ist, ist es ein großer Vorteil, wenn auch die, die sich das Pedelec nicht sofort leisten können für ein paar Euro pro Stunde Zugriff darauf haben.
Nochmal zurück zur Ergänzung des ÖPNV durch Sharing-Systeme. Das erinnert an Nachtbuslinien, die viele Städte schon sehr lange haben…
Claus Doll: Das stimmt. Ganz neu ist das nicht. Was wir jetzt als Ridepooling bezeichnen, gab es als Anruf-Sammeltaxen eigentlich schon ganz schön lange. Neu und bequemer ist die direkte Buchbarkeit, das „ich bin hier, hol mich ab“. Das war früher schwieriger. Auch Carsharing gibt es schon relativ lange. Neu sind die Schnittstellen zum Nutzer, die einfache Buchbarkeit.
Das macht den Alltag viel einfacher.
Claus Doll: Ja. Zudem bringt Sharing dem Nutzer Flexibilität. Wenn ich mich auf Carsharing oder verschiedene Sharing-Systeme einlasse, kann ich mir mal einen kleinen Wagen oder auch mal Transporter oder Bus für die Fußballmannschaft meiner Kinder nehmen.
Konstantin Krauß: Nicht nur die Nachfrageseite, auch die Angebotsseite hat eine höhere Flexibilität. Eine E-Scooter- oder Bikesharing-Flotte kann ganz einfach verschoben werden. Wenn wir nach der Corona-Pandemie wieder zu größeren Veranstaltungen gehen und Tausende Menschen von einem Ort wieder nach Hause müssen, kann ein E-Scooter- oder Bikesharing-Anbieter seine Flotte relativ schnell zum Veranstaltungsort verschieben. Die Besucher haben so also eine Alternative wie sie von dort gut wieder wegkommen.
Mit Blick auf die IAA Mobility 2021 könnte man dann sagen: Großereignisse können nachhaltiger und ökologischer werden, indem man Sharing-Dienste in das Konzept einbaut?
Claus Doll: Ich denke schon, das macht das Besuchen der Messe flexibler. Für eine Messe, bei der nicht zu einem festen Zeitpunkt alle Menschen das Gelände verlassen, sondern es eine gewisse Fluktuation gibt, bietet sich eine Kombination verschiedener Sharing-Modelle an, zum Beispiel ein Angebot an E-Scootern und Bikes, aber auch ein Ridepooling-System.
Konstantin Krauß: Wir wissen momentan alle noch nicht, wie genau wir am besten mit geteilter Mobilität umgehen. Eine Messe kann eine ganz coole Plattform sein, Sharing auszuprobieren und zu analysieren, was klappt und was nicht.
Welche Veränderungen sehen Sie durch die Pandemie?
Konstantin Krauß: Wir haben während der Pandemie gesehen, dass am Anfang das Fahrrad total geboomt hat. Auch Bike- und E-Scooter-Sharing-Anbieter wurden angenommen – weil sie ein Angebot außerhalb des ÖPNV an der frischen Luft anbieten konnten. Eine Disruption wie die aktuelle Pandemie macht es vielleicht möglich, neue Arten von Mobilität zu etablieren. Kommunen könnten diese Chance nutzen und dem ÖPNV ein bisschen Stärke zurückgeben, indem man ihn durch mikromobile Lösungen besser anbindet. So müssen die Menschen in den Randgebieten der Stadt nicht mehr 20 Minuten bis zur nächsten Haltestelle laufen, sondern fahren mit einem Sharing-Scooter drei Minuten.
Über die Studie: In dem Leitfaden "Shared Mobility Facts" geben die Autor:innen vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI (Konstantin Krauß, Aline Scherrer, Dr. Uta Burghard, Dr. Claus Doll, Dr. Johannes Schuler und Pia Niessen) eine Übersicht aktueller Forschungsergebnisse zu geteilter Mobilität und entwickeln daraus Handlungsempfehlungen. Das Ziel ist es, Möglichkeiten zur Integration geteilter Mobilitätsangebote in die städtische Mobilität für Kommunen und Anbieter aufzuzeigen. Die Studie finden Sie hier. (Aufmacherfoto: © Ivan Teece/Unsplash)